"Today belongs to the past"
Raimund Hoghes Traum am Kaaitheater in Brüssel
Katja Schneider
tanzdrama Nr. 57, 2001

"I have a dream today." Die Sätze des 1968 ermordeten Pfarrers Martin Luther King, der den gewaltlosen Widerstand der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA formierte, drangen bis nach Wuppertal. Träume sind ansteckend und an keinen Ort der Welt gebunden; einmal infiziert, trägt man sie vielleicht ein Leben lang mit sich herum. Wuppertal in den Sechzigern: Gitte und Miss Germany geben Autogramme bei der Eröffnung eines Bekleidungshauses. Schlagerfilme im Roxy und Astoria. Starschnitte zum Sammeln. Mutters Nähmaschine steht in der Küche, die Petticoats der Schwester stehen auf dem Fußboden, bis sie trocken und hart geworden sind wie Gips. "Ich erinnere mich, daß meine Schwester gerade die Kellertreppe putzte, als die Nachrichten John F. Kennedys Tod in Dallas meldeten", sagt Raimund Hoghe, und daß es einmal hieß, das Herz von Marylin Monroe wiege 300 Gramm.
Deutschland in den sechziger Jahren. Während von interessierter Seite der Versuch gestartet wird, eine ganze Generation - "die 68er" - zu diskreditieren, präsentiert Hoghe ein Stück über die späten fünfziger und die sechziger Jahre, mit dem er seine Solotrilogie über individuelle Erinnerungen an kollektive Biographien der dreißiger bis sechziger Jahre beschließt: Meinwärts beschäftigt sich mit der Zeit des Nationalsozialismus; Chambre séparée rekonstruiert die Kindheit in der jungen Bundesrepublik; Another Dream nun, das im November im Pumpenhaus in Münster als Preview gezeigt, im Dezember am Brüsseler Kaaitheater uraufgeführt wurde und Anfang Februar am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm Deutschlandpremiere hatte, handelt von den Träumen, Utopien und Realitäten der sechziger Jahre. Wechselbezüge von Vergangenheit und Zukunft prägen diese Mentalitäts- und Zeitgeschichten, die in der Biographie Hoghes ihren Ursprung haben. Doch er spinnt daraus keine Privatmythologie, sondern öffnet ein Archiv.
Another Dream ist so zeitlos wie politisch aktuell. Das zweistündige Stück kreist um die großen Themen Liebe, Einsamkeit, Begehren, Revolte und Tod. Es läßt den Zuschauerassoziationen freien Lauf, die mit den Songs fliegen von Yesterday über Daydream bis hin zu Mr. Tambourine Man, all jenen Stimmen und Texten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt alles sagten, was gesagt werden konnte. Da bricht sich das Erhabene am Lächerlichen, und das Triviale funkelt im Pathos des Gelebt-worden-Seins. Doch dann zwingt Hoghe immer wieder die Aufmerksamkeit auf den Punkt. Lakonisch, auf direktem Umweg: Er zitiert Martin Luther Kings "I have a dream today", erinnert sich an "das beliebte Café in der Fußgängerzone von Bielefeld, in dem keine Schwarzen bedient wurden", erzählt, daß er an einem warmen Tag in Brüssel mit einem Farbigen geredet habe, der dort keine Arbeit finde, weil er schwarz sei. Und dann spielt er das von einer Frau unglaublich schön gesungene Summertime ein - und stellt seinen nackten Fuß in einen Halbkreis brennender Teelichtchen. Zu Joan Baez' We Shall Overcome lagert er sich dandyhaft auf den Boden und zeichnet mit einem Räucherstäbchen Kreise in die Luft: Das Bild für einen erträumten, vernebelten, zerredeten, überlebten Aufbruch, der gleichwohl bitter nötig war in einer Gesellschaft, in der die Welt der Schlager und Kinofilme, der Stars und Starschnitte zu einer Überlebensnische wurde - wenn man sie nur kurzschloß mit dem, was diese Gesellschaft brutal und erbarmungslos ausschloss: zum Beispiel "black power" und "gay liberation".
Hoghes wunderbarer Kommentar zu den sechziger Jahren ist also alles andere als eine nostalgische Rückwendung. Seine Bilder, die in der Zusammenarbeit mit Luca Giacomo Schulte entstanden, sind - wie immer - intensiv, berührend, voll Schönheit, Melancholie und Pathos. Sie zeugen sich in dem dämmrigen, subtil beleuchteten Raum in weiteren Bildern und Gedankengängen fort, sie sprechen paradoxerweise vieles an, indem sie nicht erwähnen, was man hätte explizit thematisieren können.
Für seine minimalistischen, ritualhaften Handlungen findet er neue Formen: ein Gehen mit der schnellen Berührung des Bodens; das flache Führen der Hand vom Scheitel zur Seite; die Drehung um die eigene Achse, indem er einen Fuß eng neben den anderen in die entgegengesetzte Richtung stellt; das mechanische Abbiegen eines Unterarms und Unterschenkels. Noch nie war Raimund Hoghe so in Bewegung wie hier. So tänzerisch. Zu Beginn twistet er mit ernstem Gesicht und energischen Hüften. Unter den gebeugten Knien drehen die Füße am Platz, der Oberkörper biegt sich weit nach hinten: Vital, entschlossen "wirft er den Körper in den Kampf", ein Zitat Pier Paolo Pasolinis aufgreifend, das sich Hoghe als Titel geliehen hat. Er geht als Sieger aus diesem Kampf hervor, setzt an den Schluß der Trilogie das Bild aus einem früheren Teil: Dem Publikum den Rücken zugewandt, hält er einen rechtwinkligen Rahmen, in dem sich der Sand rieselnd zu immer neuen Linien formt, über seinen nackten Oberkörper. Dann stellt er es ab. Hebt und senkt die Arme. Als könnte er fliegen.

©Katja Schneider
tanzdrama Nr. 57, 2001