"Erzähl mir vom Vulkan"
Tanz in Brüssel: Hoghe mit Gästen in ‘Sarah, Vincent et moi’
Gerald Siegmund
Frankfurter Allgemeine Zeitung/Feuilleton, 12 February 2002


Raimund Hoghes Tanztheater ist ein Dialog mit Objekten. Mit pedantisch anmutender Akribie arrangiert der in Düsseldorf lebende Künstler Gegenstände, die, von ihrem ursprünglichen Verwendungszweck befreit, wie leuchtendes Kleinod auf der Bühne ein neues, zweites Leben erhalten. Unter dem Blick des Melancholikers, das wußte schon Walter Benjamin, werden sie der Vergänglichkeit entrissen, indem sie im Verwenden mit Geschichte belegt werden. Hoghe macht die Melancholie der Gegenstände zum Verfahren seiner Tanzkunst. Aus dieser Ambiguität von Todverfallenheit und Errettung ziehen seine Stücke ihre Spannung. Einerseits verwandeln sie den buckligen Mann, der in den achtziger Jahren Dramaturg von Pina Bausch war, selbst in ein Objekt, das, als Ding unter Dingen, sich den von ihm entwickelten Verrichtungen nach strengen geometrischen Vorgaben auf der Bühne unterwerfen muß. Inspiriert von japanischen Teezeremonien, ist jeder Handgriff, jeder Gang im leeren Raum genau festgelegt, die den Akteur abhängig machen von einer Struktur, die seine Individualität übersteigt. Andererseits fangen die Objekte, eingespannt in kleine rituelle Verrichtungen, an, zu sprechen, erzählen durchaus humorvoll wie in der Trilogie „Meinwärts“, „Chambre separée“ und „Another Dream“ von Begebenheiten und Erfahrungen im Deutschland der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre, oder, wie in „Lettre Amorose“ vom Fremdsein und vom Abgeschobenwerden, was im aktuellen gesellschaftspolitischen Klima auf unmittelbare Resonanz stößt. Über den Umweg von Anekdoten, alltäglichen Kuriositäten, in denen Grausames aufblitzt, und Liebesbriefen fächert Hoghe ein Stück Bundesrepublikanische Geschichte von ihren Rändern her auf. In seinem Körper, der gängigen Schönheitsnormen widerspricht, bricht Hoghe Geschichte wie in einem Prisma. Daß Hoghe sich dabei nie zum Opfer stilisiert, macht seine Stücke gültig auch über das Moment des Privaten, Schicksalhaften hinaus. Seine Haltung ist eher vergleichbar mit der amerikanischer Performancekünstler, die sich mit post-Brechtischen Gestus kühl und ausdruckslos dem einfachen Machen von Dingen und dem Zeigen auf Vorgänge verschrieben haben, ohne daß sich ihre Subjektivität zunächst in den Vordergrund drängte. Auch Raimund Hoghe firmiert in seinen Stücken als Vermittler, als Stellvertreter zwischen Leben und Tod, Sehnsucht und Trauer, in deren Arbeit er uns verstrickt.

Lediglich ein paar Objekte sind in seinem neuen Stück „Sarah, Vincent et moi“, das jetzt am Brüsseler Kaaitheater uraufgeführt wurde, übrig geblieben. Die Leere, die fehlenden die Dingen in Hoghes Universum hinterlassen haben, füllt er mit der kanadischen Tänzerin Sarah Chase und dem Tänzer Vincent Dunoyer, zehn Jahre lang Protagonist in Anne Teresa de Keersmaeker Truppe Rosas. Hoghe hat sich die beiden als Gäste in seine Welt eingeladen und bereitet ihnen die Bühne. Zu Beginn schreitet er die mit schwarzen Vorhängen ausgeschlagene Wände des Raumes ab und läßt dabei seine Hand über den Stoff gleiten. Er holt eine Tüte Sand aus einem Versteck, greift hinein und läßt den Sand langsam durch seine Finger rieseln bis an drei Orten kleine Kreise auf dem Bühnenboden entstanden sind. Daneben plaziert er jeweils einen Miniaturkronleuchter, dahinter ein Teelicht bis die Bühne sich in einen Ballsaal verwandelt hat. Aus der ersten Zuschauerreihe betritt Sarah Chase die Szene. Sie legt sich auf die Seite, streckt ihren linken Arm in die Luft, knickt das Handgelenk ab und läßt Arm und Hand kreisen wie einen Schwanhals. Dazu erklingt immer wieder das h-moll Motiv aus Tschaikowskys „Schwanensee“, das die Sehnsucht nach dem Anderen mit mitunter pathetischer Wucht unterstreicht. Auch diesmal legt Hoghe die ganze Emotionalität in die Chansons, die die einzelnen Aktionen stützen und deren Spektrum von Maria Callas über Peggy Lee hinzu Dalida reicht. In emblematischer Weise begleiten ihre Texte die Bilder, öffnen Assoziationsräume und belegen sie mit Bedeutung. Schnörkellos und schlank sind dagegen die Verrichtungen der Tänzer, die dadurch eine große Ruhe von anrührender Intensität entfalten.

Nach gut einer Stunde begleitet Hoghe Sarah Chase unter einem japanischen Schirm von der Bühne zurück auf ihren Platz in der ersten Reihe. Für Vincent Dunoyer, seinen zweiten Gast, definiert er die Bühne um. Mit ausgebreiteten Armen mißt er noch einmal den Umfang des Raumes ab, bevor er vor der Rückwand mit Sand einen breiten leuchtenden Streifen entstehen läßt. Mit nacktem Oberkörper legt er sich auf die Seite, einer bizarren Skulptur gleich, während Vincent Dunoyer sich auf dem Boden sitzend rückwärts auf ihn zu bewegt. Er rollt seine Arme aus den Schultern heraus, als schlage ein Schwan mit seinen Flügeln, greift nach hinten, um sich erneut abzustützen. Sowohl die Gesten als auch die Orte, an denen sie ausgeführt werden, sind Echos des ersten Teils, der durch Wiederholungen fein mit dem zweiten verzahnt ist.

Doch während Hoghes Verhältnis zu Sarah Chase eines des Dienens, Bewunderns und Beschützens ist, das stets auch von einer Unerreichbarkeit der Frau gekennzeichnet ist, geht er mit Vincent Dunoyer wesentlich lockerer um. Der andere Mann, ihm in der Größe ähnlich, wird ihm zum Spiegel, dessen Idealbild er sich über die markante Differenz ihrer Körper hinweg durchaus annähern kann. Wo Hoghe vor Sarah Chase sitzen bleibt und ihr zuhört, während sie Geschichten von ihren Vorfahren in Australien oder dem Vulkanausbruch des Mount St. Helens im Nordwesten der Vereinigten Staaten erzählt, oder wo er sich fast gänzlich zurücknimmt, mit dem Gesicht zur Wand, bis er mit der schwarzen Vorhängen zu verschmelzen droht, sind seine Duette mit Dunoyer symmetrisch aufgebaut. So liegen sich die beiden etwa auf dem Sandstreifen gegenüber wie am Strand oder tanzen gemeinsam, indem sie sich an den ausgestülpten Taschen ihrer Hosen fassen.

Zum Schluß läßt Vincent Dunoyer an eben jenen drei Plätzen, an denen im ersten Teil die Kronleuchter ihre Lichtkegel warfen, noch einmal Sand auf Photos rieseln, die er zuvor auf den Boden gelegt hatte. Der Vergänglichkeit anheim gegeben, verschwinden die Bilder mit der Zeit. Doch Dunoyer entfernt sie im Anschluß vorsichtig aus dem Sand. Er birgt sie, und zurück bleibt lediglich die Erinnerung, daß da einmal etwas war. Sarah Chase und Hoghe treten hinzu, jeder eine Tüte Sand in der Hand, und füllen die leeren Flächen allmählich auf bis die Wunden verheilt sind.

„Sarah, Vincent et moi“, das wie die früheren Stücke Hoghes in Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte entstanden ist, folgt einer Dramaturgie der Orte und der Wege, die zu ihnen zurückführen. Hoghe betreibt Choreographie im ursprünglichern Sinn des Wortes: als Schreiben mit Bewegung, die auf dem leeren Blatt Papier der Bühne ihre Spuren und Wegzeichen hinterläßt. „Sarah, Vincent et moi“ gehört wie „Dialogue with Charlotte“, Hoghes Stück mit der schwedischen Schauspielerin Charlotte Engelkes, zu seinen Sehnsuchtsstücken. Es erzählt von der Begegnung mit Menschen, vom Wunsch der Annäherung, der Berührung und den unterschiedlichen Formen des Begehrens, die dies möglich oder unmöglich machen.


©Gerald Siegmund